Kreide Fressen

1. Juni 2013 in Dresden

Von Schülern und Lehrern.

Fast jedes Kind erwartet mit Neugier und Vorfreude seinen ersten Schultag. Wenige Jahre später ist Schule nur noch „,doof“, oder ein unvermeidliches Übel, manche Jugendliche verweigern die Schule ganz. Fast jeder Lehrer liebt seinen Beruf, dennoch sind die meisten nach wenigen Jahren Schulbetrieb nahe am Burnout oder funktionieren nur noch als Rädchen im Getriebe. Jugendliche erwarten von der Schule mehr Bindung als Bildung, während Lehrer sich bessere Schulausstattungen und kleinere Klassen wünschen. Die einen sagen, Schule ist eine Sanktionierungsanstalt, die aus Kindern angepasstes Mittelmaß macht, andere sehen gerade in der Schule eine Chance, jungen Menschen soziale Kompetenz und Freude an den eigenen Fähigkeiten zu vermitteln. Schule kennt jeder und jeder hat dazu eine Meinung. Theater La Lune hat in einem umfangreichen Rechercheprozess mit SchülerInnen und LehrerInnen dokumentarisches Material gesammelt, das sich auf der Bühne in ein Spiel verwandelt, in dem Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des „,Biotop Schule“, untersucht werden, das wie kein anderes gesellschaftliche Fragen und Konflikte spiegelt. Der theatralen Behauptung einer Gruppe von Lehrern im Ausnahmezustand wird die reale Welt von heutigen Jugendlichen gegenüber gestellt, die mittels Videoeinspielungen mit ihren Meinungen, Fragen, Wünschen und Ängsten präsent sind. Das Nebeneinander von Fiktion und Dokumentation ermöglicht den permanenten Perspektivenwechsel, die Konfrontation mit dem Denken und Fühlen des „,feindlichen“, Gegenübers. aus der Presse: "Vier Lehrer bei der Supervision, es könnte auch Weiterbildung sein. Dort prallen selbstüberlebte und akute Ideale auf Stresssymptome bis hin zur Frustration hart aufeinander. Das wird gespielt auf der kleinen Kellerbühne im Dresdner Societaetstheater in Klassenzimmerambiente mit Campingmöbeln. Dagegen stehen vier Blöcke von Videoeinspielungen von realen Dresdner Schülern, in denen die Macken von und die Erwartungen an ihre Lehrer formuliert werden. Die Recherchen zu dieser Mischform von Fiktion und Doku der Theatergruppe La Lune unter Leitung von Regisseurin Veronika Steinböck und Dramaturgin Caren Pfeil begannen zu viert im Frühjahr, umfangreiche Interviews mit Haupt- und Mittelschülern sowie Gymniasasten (auf Video) und deren Lehrern dienten als Grundlage der Stückentwicklung, die nun versucht, Glanz und Elend des Dresdner Schulwesens zu beleuchten. Anders als bei Lutz Hübners meist lustiger Grundschulanalyse „,Frau Müller muss weg“, spielt bei „,Kreide fressen“, der Druck aus dem Elternhaus keine direkte Rolle. Die Jugendlichen, die ihre Zukunftsaussichten qua Schulmodell offenbar genau kennen, stellen in den Einzelinterviews ihre Realansicht zu bestimmten Fragen im Verhältnis zu Lehrern und Schule dar, sind dabei mutig, weil nicht zimperlich. Mit diesem Meinungsbild konfrontiert, erklärt das Spiel der vier Lehrer (Julia Amme, Olga Feger, Andreas Jendrusch & Karolina Petrova) die (ab und an verwaisten oder nur vereisten) Motive des Berufswunsches und die Widrigkeiten des Alltages. Sie unterliegen Stimmungsschwankungen dank Stress und Alter, fühlen und führen das latente Ausgebranntsein vor und benehmen sich bei der Konfrontation nicht besser als ihre Schüler. Nirgends zeigt sich die zunehmende prekäre Verrohung genauer als in der Klassenzimmerkultur. Wenn Frau Müller hier dabei wäre, müsste sie nicht weg, sondern kämpfen. Zwei halböffentliche Voraufführungen, genau zwei Monate vor der Premiere am 31. Januar, brachten noch einmal Lehrer und Schüler zusammen und gaben einen Vorgeschmack. Die Ergebnisse der Diskussion fließen noch in die Inszenierung ein, wofür noch mal eine Woche im Probenraum und eine Woche auf der Bühne Zeit sein wird. Regisseurin Veronika Steinböck will vor allem am Schluss noch arbeiten und eine Szene einfügen. Auch die Videos könnten noch einmal anders geschnitten werden, neugedreht werde allerdings nichts mehr, erklärt Steinböck. Möglich wird diese Ausführlichkeit dank mehrerer angezapfter Fördertöpfe und dem Erfolg ihres Vorgängerstückes „,Just a little bit racist“, am Haus, welches immer wieder ausverkauft ist. Nun kommt es auf die Dresdner Schulen an, ob ihre arg beanspruchten Lehrkörper sich diese Art der Reflexion gemeinsam mit ihren Schutzbefohlenen antun. Diese würde es freuen. (SAX) „,Wir sorgen dafür, dass unsere Schüler sich in die Gesellschaft einfügen“,, erklärte einst die Schulleiterin eines Gymnasiums in Dresden stolz. Darauf der Vater, selbst Pädagoge: „,Mein Wunsch ist, dass meine Tochter lernt, diese Gesellschaft zu gestalten und nicht, sich einzufügen“,. Nun, diese Schule kam für dieses Kind nicht infrage. Die große Zahl der Neugründungen von Schulen mit unterschiedlichsten pädagogischen Ansätzen ist Beleg dafür, dass viele Eltern ihren Kindern das nicht antun wollen, was sie in den meisten Fällen selbst erlebt haben: Die „,Regelschule“,, Höchststrafe 12 Jahre Straflager unter verschärften Bedingungen –, die erste und in den meisten Fällen traumatische Begegnung mit der entindividualisierten Leistungsgesellschaft. Nein, das Schulleben ist leider kein „,Fliegendes Klassenzimmer“,, im System Schule menschelt es nur in Ausnahmen. Nicht wenige Eltern erledigen für ihre Kinder die Projektaufgaben, damit die Kleinen überhaupt eine Chance haben, das Gros der Lehrer ist entweder zynisch oder ausgebrannt. „,Wo können wir die Geschichte der Menschen erzählen, die sich im System Schule befinden, dies war unsere Aufgabe“,, erzählt die renommierte freie Dramaturgin Caren Pfeil, die mit dem Theater La Lune das Stück „,Kreide Fressen“, erarbeitete. Theater zu Themen zu machen, die sich an der Realität orientieren, ist der Arbeitsansatz des Theaters La Lune, das zuletzt mit dem Stück über das Fremdsein in Dresden „,Just A Little Bit Racist“,, ebenfalls im Societaetstheater, reüssierte. So stand am Anfang des Stücks „,von Lehrern und Schülern“, umfängliche Recherche der allgemeinen Fakten, mehr als 40 Stunden Interviews mit 12 bis 17-jährigen Schülern (per Video) und Lehrern (Gespräche anhand eines Fragebogens) mussten gesichtet und geschnitten, 200 Seiten transkribiert, anonymisiert und in einem intensiven Improvisationsprozess von den vier Schauspielerinnen und Schauspielern in spielbares Material verwandelt werden. Als Ergebnis steht eine Collage aus Spielszenen und Dialogen, in der die Akteure vor der Videoleinwand verschiedene Situationen spielen, in die Rollen unterschiedlicher Lehrercharaktere schlüpfen. Der theatralen Behauptung einer Gruppe von Lehrern im Ausnahmezustand wird die reale Welt von heutigen Jugendlichen gegenüber gestellt, die mittels Videoeinspielungen mit ihren Meinungen, Fragen, Wünschen und Ängsten präsent sind. Das Nebeneinander von Fiktion und Dokumentation ermöglicht den permanenten Perspektivenwechsel, die Konfrontation mit dem Denken und Fühlen des „,feindlichen“, Gegenübers. „,Es ist für alle Seiten erhellend“,, erzählt eine Besucherin der Voraufführung von „,Kreide Fressen“, Ende November: „,Die Schüler erkennen, dass es sich bei Lehrern tatsächlich um Menschen handelt. Die Lehrer sehen, wie sehr sich die ihnen Anvertrauten nach Anerkennung und Wahrnehmung als Person und als Persönlichkeit sehnen, und für Eltern wird drastisch klar, in welchen Zwängen die Schüler, aber auch die Lehrer stecken.“, Auch Caren Pfeil bestätigt die positive Rückmeldungen aus den Zuschauergesprächen mit Schülern, Lehrern und Referendaren bei den Voraufführungen: „,Die Lehrer finden sich wieder, Schüler verstehen ihre Lehrer besser und es wird klar, dass viele Konflikte durch Non-Kommunikation entstehen. Das System Schule wird greifbarer und damit auch angreifbarer“,, resümiert sie. Einer Systemänderung geht neben der Systemkritik die Systemanalyse voraus –, der erste Schritt ist getan." (Dresdner) "Gut langt nicht. Heute muss man besser sein." Diese Sätze haut eine Mutter der Lehrerin ihres Sohnes um die Ohren und fordert, dass "ihr Robin" am Ende des Schuljahrs zu den besten fünf der Klasse gehören wird. Ultimativ. Da ist er wieder, dieser Druck von außen, der im Theaterstück "Kreide fressen" den Lehrern das Leben schwer macht. Das Thema zieht sich durch die ganze Aufführung, die im - natürlich ausverkauften - kleinen Saal des Societaetstheaters Premiere feierte. Nicht nur auf der Bühne, auch im Schulalltag ist dieser Druck immerzu spürbar, wie die Theatermacher sagen, denn das Stück ist nach langer Recherche an Schulen in Dresden und dem Umland entstanden, basiert auf Interviews mit Lehrern und Schülern. Auf dem Bühnenboden, einer gigantischen Schultafel, stehen Lehrerfiguren im Mittelpunkt. Julia Amme, Olga Feger, Andreas Jendrusch und Karolina Petrova vom freien Ensemble Theater La Lune spielen in assoziativ verbundenen Szenen Pädagogen, wie sie im beengten Lehrerzimmer um ein bisschen Platz zum Atmen ringen, wie sie sich mit strenger Hierarchie und ihrem Pensum abmühen oder sich in der Raucherecke, gleich neben dem Müllcontainer, über die Schüler aufregen, mit ihrem Pausengezänk, ihrem ständigen Gähnen und ihrer wilden Fragerei. Die angefeindeten Schüler kommen auch zu Wort, in rascher Folge zusammengeschnittene Interviewsequenzen werden in Ergänzung zum Geschehen auf der Bühne an die Wand geworfen. Da ist auch Raum für Heiterkeit. "An der Schule mag ich vor allem die Freizeit, die ich in der Pause habe", sagt ein Schüler und hat die Lacher auf seiner Seite. "Warum gibt es nicht mehr Spielszenen mit Schülern?" wurde in dem bei Theater La Lune üblichen Gespräch nach der Aufführung aus dem Publikum gefragt. Tatsächlich kommunizieren Schüler und Lehrer im Stück nicht, obwohl sie sehr viel übereinander reden. Immerhin: Spiel und Einspielungen korrespondieren, etwa wenn Lehrer und Schüler gleichermaßen Bauchschmerzen vor der Benotung empfinden. Beide haben ihre Probleme mit dem Schulsystem, mit dem Druck darin. Immerhin diese Gemeinsamkeit wird deutlich. Was nicht heißen soll, dass die Dramaturgie in die Klischeefalle getappt sei. Es ist ein Verdienst der Aufführung, dass sie das "böse System" nicht in den Vordergrund rückt oder den Lehrer als ewige Jammerfigur, wie er immer mal wieder durch die Medien geistert. Diese Lehrer rackern sich ab, resignieren nicht. Sicher, die Dinge laufen schief, das ist in jeder Szene spürbar. Weil der Fokus aber immer bei den, wenn auch namenlosen, Figuren und ihren jeweiligen Konflikten bleibt, kommen vor allem zwischenmenschliche Probleme und innere Konflikte zum Tragen. "Du versaust uns ja den ganzen Schnitt", nörgelt etwa das Kollegium an der Notenvergabe einer Lehrerin herum. Es sind Menschen, die unter Stress stehen und den Druck auf andere erhöhen. Insofern ist "Kreide fressen" kein Schulstück, sondern eines, das sich überall in der Gesellschaft widerspiegelt. Dass möglichst viele Lehrer und Schüler sich mit dem Stoff auseinandersetzen, wünscht man sich aber trotzdem. Von Uwe Hofmann (DNN) Gefördert durch das Lokale Handlungsprogramm der Stadt Dresden für Toleranz und Demokratie und gegen Rassismus (LHP), durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, den Fonds Darstellende Künste e.V., durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms "TOLERANZ FÖRDERN - KOMPETENZ STÄRKEN" sowie durch die Dresdner Stiftung Kunst & Kultur der Ostsächsischen Sparkasse Dresden. Mitwirkende: Regie: Veronika Steinböck

Darsteller: Julia Amme, Olga Feger, Andreas Jendrusch, Karolina Petrova

Bühne & Kostüm: Uta Materne

Dramaturgie: Caren Pfeil

Kamera & Videoschnitt: Christian Rabending

Regieassistenz: Marlen Schröder

Quelle: kulturkurier / Kulturclub.de

Wo ist das Event?
Societaetstheater
An der Dreikönigskirche 1a
1097 Dresden
Wann ist das Event?
Samstag, 1. Juni 2013
20:00 Uhr
Seit 3989 Tagen vorbei!

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Kreide Fressen - Dresden - 01.06.2013 – Copyright © 2024 Kleiner Kalender