Der Kirschgarten

28. Mai 2014 in Wiesbaden

Maxim Gorki Theater Berlin.

Internationale Maifestspiele 2014

Eine Komödie von Anton Tschechow
Deutsch von Angela Schanelec nach einer Übersetzung von Arina Nestieva
Fassung von Nurkan Erpulat

Inszenierung Nurkan Erpulat

Der deutsch-türkische Regisseur Nurkan Erpulat machte 2011 mit seiner Berliner Inszenierung ,Verrücktes Blut‘ Furore. Die Produktion, die am Ballhaus Naunynstraße Premiere hatte und 2012 bei den Internationalen Maifestspielen gastierte, beschreibt die Situation junger Migranten der sogenannten Dritten Generation. Mit Tschechows ,Kirschgarten‘ eröffnete Erpulat im November die Intendanz von Shermin Langhoff am Maxim Gorki Theater in Berlin: Ein unkonventioneller und ungezügelter Blick auf Tschechows Figuren, die zum letzten Tanz in einem dem Untergang geweihten russischen Herrschaftsmilieu bitten. Ihre Existenz steht am Scheideweg: Aufbruch in eine neue Lebenswelt oder Beschwörung der alten Kultur als letzte Bastion der Selbstvergewisserung? Tschechows Konflikt zwischen dem traditionsbewussten Bürgertum und einer neuen, jungen Schicht, die sich von jahrzehntelanger sozialer Ausgrenzung befreit, verwandelt Nurkan Erpulat zu einem Theaterereignis, das uns das Stück auch in Deutschland sehr nahe bringt. Entstanden ist ein rauschhafter und wilder Abend, der den Begriff Heimat in ein neues, berührendes Licht rückt. Die Gutsherrin Ranewskaja kehrt nach Jahren im Ausland mit ihrer Tochter Anja heim auf ihr russisches Landgut. In Paris hat sie ein verschwenderisches Leben geführt und ihr gesamtes Vermögen mit einem untreuen Geliebten durchgebracht. Vollkommen verschuldet kommt sie nun zurück in die alte Heimat, an den Ort ihrer Kindheit. Kleinod des Landsitzes ist ein alter, idyllischer Kirschgarten, der durch seine Größe und einzigartige Schönheit weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist. Ein großes Komitee steht zum Empfang bereit, darunter ihr Bruder Gajew, ihre Pflegetochter Warja und der geschäftstüchtige Kaufmann Lopachin.

Die Rückkehr ist bestimmt von sehnsuchtsvollen Erinnerungen an die glücklichen Stunden der Kindheit und die rauschenden Feste. Doch Lopachin, dessen Vater noch als Leibeigener auf dem Gut arbeitete, kann die Ranewskaja nicht von den Einbrüchen der ökonomischen Wirklichkeit verschonen. Da Hypothekenzahlungen ausgeblieben sind, ist ein Termin zur Zwangsversteigerung des Kirschgartens angesetzt worden. Der ehemalige Leibeigene Lopachin, der die Ranewskaja seit Kindheitstagen verehrt, unterbreitet ihr wohlmeinend ein Konzept zur Sanierung ihrer Finanzlage. Um die Schulden begleichen zu können, schlägt er vor, den Kirschgarten zu parzellieren und dort einen gewinnträchtigen Ferienpark für Sommertouristen zu errichten. Ranewskaja und ihr Bruder Gajew lehnen seinen Plan verständnislos und voller Hohn ab. Untätig lassen sie die Zeit in gepflegtem Müßiggang verstreichen und leben unbekümmert vor sich hin.
Als der Tag der Zwangsversteigerung gekommen ist, erklärt Lopachin, dass er, der Sohn eines Leibeigenen, den Garten erworben habe und von nun an Besitzer des Kirschgartens sei. Fassungslosigkeit macht sich breit. Ein Außenseiter ist zum Aufsteiger einer neuen Gesellschaft geworden. Für die Familienmitglieder heißt es kurz darauf, für immer Abschied zu nehmen. Die Ranewskaja geht zurück zu ihrem Geliebten nach Paris in eine unbestimmte Zukunft, der Rest der Familie zerstreut sich in alle Himmelsrichtungen. Kaum, dass sie das Haus verlassen haben, ertönen von draußen dumpfe Axtschläge. Einzig der alte Diener Firs bleibt als Relikt aus einer vergangenen Zeit zurück. Der Kirschgarten wird abgeholzt. Neue Zeiten brechen an.

In seiner Komödie ,Der Kirschgarten‘ beschreibt Anton Tschechow eine abgelebte, in ihren Werten überkommene Gesellschaft, die einer neuen vorwärtsstrebenden Generation Platz machen muss. Nach Jahren des Wohlstands und der hedonistischen Selbstbezogenheit haben sich Langeweile und Saturiertheit im Lebensgefühl der herrschenden Elite eingenistet. Die Menschen sind blind geworden für den realen und unvermeidlichen Lauf der Geschichte, für das moralische Vakuum, das ihre Gesellschaftsschicht entbehrlich gemacht hat. Längst haben Söhne, Töchter und Enkel der Leibeigenen, die einst von Bildung, sozialem und kulturellem Leben ausgegrenzt waren, den Siegeszug angetreten und sind zur neuen gesellschaftlichen Produktivkraft geworden.
Nurkan Erpulat spürt den Veränderungen des tradierten deutschen Kulturbegriffs in unserer von Migration geprägten Gesellschaft nach. In seiner Lesart wird Tschechows Komödie zu einem deutschen Heimatabend über die alte, bürgerliche Kultur, die ihr Sinnbild im idyllischen, über Generationen hinweg gehegten Kirschgarten findet. Für seine Besitzer repräsentiert er Heimat, Identifikation und Tradition. Perspektivisch gesehen aber ist er nutzlos.

Drei Generationen türkischer Migranten haben die deutsche Gesellschaft beeinflusst und verändert. Vor dem Hintergrund von Tschechows Beschreibung einer untergehenden Gesellschaft eröffnen sich dringliche Fragen unserer Gegenwart: Schafft Deutschland sich selbst ab? Erleben wir den Untergang der deutschen Kultur durch fremde Einflüsse? Ist die Angst vor einer türkischen Invasion berechtigt? Und wem gehört die Heimat?

Das neue Ensemble des Maxim Gorki Theaters vereint Schauspieler deutscher und türkischer Herkunft. So spiegelt auch die Besetzung dieses ,Kirschgartens‘ eine der wichtigsten aktuellen Debatten unseres Landes.

Der Regisseur Nurkan Erpulat wurde 1974 im türkischen Ankara geboren. Nach einem Schauspielstudium in Izmir zog er mit 24 Jahren nach Berlin, wo er an der Hochschule für Schauspielkunst ,Ernst Busch‘ Regie studierte. Mit dem Dramaturgen Jens Hillje erarbeitete er die Filmadaption ,Verrücktes Blut‘ am Ballhaus Naunynstraße in Berlin, die zum Berliner Theatertreffen 2011 eingeladen wurde. Seitdem wird das Stück weltweit nachgespielt. Im selben Jahr entstanden das interkulturelle Jugendtheaterprojekt ,Clash‘ am Deutschen Theater Berlin, ,Das Schloss‘ von Franz Kafka als Koproduktion von Deutschem Theater Berlin und Ruhrtriennale sowie Maxim Gorkis ,Kinder der Sonne‘ am Volkstheater Wien. In den vergangenen zwei Spielzeiten war Nurkan Erpulat Hausregisseur am Düsseldorfer Schauspielhaus, wo er Stücke von David Gieselmann, Ödön von Horváth und Friedrich Schiller inszenierte. Seit der Spielzeit 2013/14 ist er Hausregisseur am Maxim Gorki Theater Berlin.

Quelle: kulturkurier / Kulturclub.de

Wo ist das Event?
Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Christian-Zais-Straße 3
65189 Wiesbaden
Wann ist das Event?
Mittwoch, 28. Mai 2014
19:30 Uhr
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